Das Europa der Anderen (Duitstalig)

Ansprache von Frans Timmermans, Minister für europäische Angelegenheiten des Königreichs der Niederlande

Einführung

Europe. Now you see it, now you don't. Die, die schon lange in Europa leben, scheinen seiner überdrüssig. Die, die nicht hier sind, die woanders leben, wollen um jeden Preis her, oder hinein. Was ist das, das die einen HABEN, aber nicht mehr wollen, und wonach sich die Anderen so SEHNEN?“

Eine Antwort auf diese Frage von Wim Wenders zu finden, ist vielleicht die wichtigste Aufgabe der Europapolitiker. Die Versuche, die in den letzten Jahren in diese Richtung hin unternommen worden sind, haben nur sehr geringe Erfolge verbucht. Viele Europäer sind um eine Illusion ärmer, weil Europa in ihren Augen nicht genügend Ergebnisse hervorbringt und sie nicht genügend repräsentiert. Daher ist es derzeit Mode, Europa über konkrete Projekte zu definieren. Dieser Ansatz ist nicht ganz ohne Eigennutz, denn mit konkreten Projekten lassen sich konkrete Ergebnisse erzielen. Aber ein rein utilitaristisches Europa ist doch ein eher armseliges Europa, so wie eine rein utilitaristische Politik letztendlich auch eine armselige Politik ist.

Seit vielen Jahren bin ich ein großer Fan von Herbert Grönemeyer. Das Lied, in dem er vor einigen Jahren den Tod seiner Frau verarbeitet hat, hat mich tief beeindruckt. Aber Grönemeyer versteht sich nicht nur auf Gefühle, er ist auch politisch sehr engagiert. Mit einem Lied auf seinem neuesten Album „12“ hält er uns Politikern einen Spiegel vor, der alle Falten und Furchen, alle großen und kleinen Unvollkommenheiten in unserem Gesicht erbarmungslos offenlegt. In „Flüsternde Zeit“ singt er:

Der Sommer war groß
Das Wetter überreif
Aber ihr, ohne Idee, im Abseits
Ihr spielt nur zum Schein
Lasst uns hinten allein
Für euren Vertrag fällt euch zu wenig ein
In einer flüsternden, flüsternden Zeit

Natürlich müssen wir die Probleme angehen, mit denen die Bürger heute zu kämpfen haben. Aber praktische Lösungen werden nur dann wahrgenommen, wenn sie mit Zukunftsentwürfen einhergehen, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Entwürfe, die innerhalb der Gemeinschaft, für die sie gedacht sind, auf breite Zustimmung stoßen. Und genau hier hat Europa ein großes Problem, denn die Flucht ins Praktische ist auch die Flucht vor dem Erfordernis, ein von allen getragenes Ideal zu formulieren.

Damit wir entdecken können, was uns Europäer verbindet, müssen wir, so paradox es auch klingt, uns zunächst einmal unserer Unterschiede bewusst werden – und dafür endlich aufrichtiges Interesse aufbringen. In einem gemeinsamen Interview zweier Europa-Abgeordneter, des Franzosen Michel Rocard und der Rumänin Adina Valean, das im Vorfeld zu den Feierlichkeiten anlässlich des 50. Jahrestags der Römischen Verträge veröffentlicht wurde, treten die Unterschiede deutlich hervor.

Der Europa-Veteran Rocard erzählt in dem Interview, dass er weinen musste, als Valean gemeinsam mit 52 Kollegen aus Rumänien und Bulgarien das Plenum des Europäischen Parlaments in Straßburg betrat, um, wie er sich ausdrückte, „ihren Platz in Europa einzunehmen“. In Gedanken war er im Jahr 1989, als er in seiner Funktion als französischer Premierminister miterlebte, wie der verhasste Nicolae Ceauşescu gestürzt wurde.

Die fast vierzig Jahre jüngere Valean empfand beim Betreten des Saals „nichts als Stolz“. Dieser Stolz galt an erster Stelle Rumänien – und nicht Europa. Denn in dem Moment, in dem sie die Tür zum Europäischen Parlament öffnete, hörte sie die Tür der Diktatur hinter sich endgültig ins Schloss fallen. „Wenn wir an Europa dachten, dachten wir nur an Freiheit“, so Valean. Rocard hatte Europa nach Rumänien gebracht, aber Valean brachte Rumänien nach Europa.

Und das ist keine Wortspielerei. Für diejenigen unter uns, die seit 1945 in Freiheit leben, stand Europa immer für den Sieg der Schicksalsgemeinschaft über den destruktiven Nationalismus. Ein wichtiger Aspekt war in diesem Zusammenhang die Relativierung des Nationalstaates. Für diejenigen, die bis 1989 unter dem Joch der Fremdherrschaft und Diktatur lebten, ist die wiedergewonnene nationale Freiheit der wichtigste Sieg der Geschichte. Die Betonung des Nationalstaates ist für sie Ausdruck der überwundenen Unfreiheit. Diese unterschiedliche Prämisse bleibt zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten meist unausgesprochen, ist unterschwellig aber präsent und führt immer wieder zu Missverständnissen.

Kreml an der Zenne

Für mich persönlich ist der Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs die größte Sternstunde der europäischen Erfolgsgeschichte. Jahrelang lagen Warschau, Prag und Bukarest für uns Westeuropäer auf einem anderen Stern. Heutzutage kann man dorthin genauso einfach reisen wie nach London oder Paris. Und das Schönste daran ist: Diese Freiheit ist inzwischen etwas ganz Selbstverständliches. Das ist ein phänomenaler Fortschritt. Zugleich verhüllt die plötzliche Nähe aber auch die Gegensätze, die zwischen den alten und den neuen Mitgliedstaaten bestehen.

Als seinerzeit die westeuropäischen Länder begannen, ihre Souveränität miteinander zu teilen, vollzog sich auch jenseits des Eisernen Vorhangs ein Integrationsprozess. Aber anders als im Westen war dies nicht das Ergebnis einer freien Entscheidung. Vielmehr erfolgte er auf totalitären Druck aus Moskau. Noch vor weniger als zwanzig Jahren bestand Europa zur Hälfte aus Ländern, deren Existenz sich auf eine institutionalisierte Form des Misstrauens zwischen den Menschen gründete. Das erklärt die Mischung aus Abscheu und Faszination, mit der wir uns Filme wie „Das Leben der Anderen“ von Florian Henckel von Donnersmarck ansehen. Gingen die Leute tatsächlich so miteinander um?

Mit der wiedererlangten Freiheit konnten Polen, Ungarn und Tschechen endlich ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Sie entdeckten ihren Nationalstolz wieder. Ebenso wie die westeuropäischen Länder haben auch die ehemaligen Ostblockstaaten der EU viel zu verdanken – man muss sich nur die beeindruckenden Wachstumszahlen ansehen. Aber ebenso wie in Westeuropa trägt dies der Union auch dort nur wenig Rückhalt bei der Bevölkerung ein.

Aus einer kürzlich veröffentlichten Umfrage geht beispielsweise hervor, dass die Letten die größten Euroskeptiker unter den Europäern sind. Danach befürworten nur 28 Prozent die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU. Die Ursache dafür liegt in den vermeintlichen Übereinstimmungen zwischen der EU und der verhassten, zentralistisch geführten Sowjetunion. Ein bürokratisches Brüssel an der Stelle des kommunistischen Moskaus – das ist das letzte, was sie wollen.

Auch in anderen neuen Mitgliedstaaten wird diese Parallele häufig gezogen. Das ist schockierend; dennoch müssen wir dafür Verständnis haben, dass sich die Spuren einer sehr traumatischen Geschichte, die noch gar nicht lang zurückliegt, nicht so einfach ausradieren lassen. Hinzu kommt, dass sich viele mittel- und osteuropäische Länder gegenüber den alten Mitgliedstaaten benachteiligt fühlen.

Sicherheit ist dabei wichtiger als die berühmten Brüsseler Fleischtöpfe. Die alten Mitgliedstaaten sollten mehr Verständnis für die Sorge vieler neuer Mitglieder um ihre Sicherheit aufbringen. Wir vergessen zu leicht, dass der Kalte Krieg bei ihnen um einiges kälter war. Sie wollen auf keinen Fall ihre gerade wiedergewonnene Freiheit in Gefahr bringen.

Die neu beigetretenen Länder müssen sich häufig noch an den Gedanken gewöhnen, dass die EU-Mitgliedschaft nicht das Ende eines Prozesses ist, sondern der Anfang eines neuen Miteinanders in größerem Rahmen. Dieser größere Rahmen ist weder eine Neuauflage des Warschauer Paktes noch eine UNO in Kleinformat. Die EU ist keine klassische internationale Organisation. Sie ist viel mehr und stellt deshalb höhere Anforderungen an ihre Mitglieder.

Wir, die alten Mitgliedstaaten, müssen begreifen, dass das Ende der Teilung Europas auch unseren Teil der Welt und unsere Wahrnehmung der europäischen Zusammenarbeit verändert. Die Vorstellung, dass sich die „Neuen“ nach ihrem Beitritt weiterhin den „Alten“ anzupassen haben, ist falsch. Sie sind nicht mehr „die Anderen“. Ihr Beitritt hat die Union verändert – und jedes einzelne Land. Dass Brüssel immer wieder als ein neues Moskau betrachtet wird, ist damit auch unser Problem.

Selbsthass

Am Ende des Zweiten Weltkriegs war der Bankrott der außer Kontrolle geratenen Nationalstaaten komplett. Doch ausgerechnet durch die Zusammenführung von Zuständigkeiten an einer Stelle – zunächst durch die EWG, später durch die EG bzw. EU – erwachte der Nationalstaat wieder zu neuem Leben. Sechzig Jahre nach dem Krieg befindet sich die Welt wiederum an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Die Globalisierung verändert die Verhältnisse auf der Welt in rasantem Tempo. Und wieder ist Europa der logische Sammelpunkt für die Nationalstaaten, die diese Herausforderung – einzeln und gemeinsam als Gruppe – meistern wollen.

Aber diese Sicht der Dinge wird nicht allgemein geteilt. Manchmal wirkt es so, als hätte Europa seinen Zenit bereits überschritten. „Von nun an kann es nur noch bergab gehen“, sagen die einen, „wir müssen das bewahren, was wir haben“, sagen die anderen. Hat Europa mit der Überwindung der Teilung tatsächlich das Ende seiner Geschichte erreicht? Nie zuvor ist ein Friedensprojekt, dem man so wenig zugetraut hat, ein solcher Erfolg geworden. Genauso beispiellos ist es aber auch, dass eine solche Erfolgsstory so scharf kritisiert wird.

Renommierte niederländische Werbefachleute behaupten, nichts sei leichter, als Europa an den Mann zu bringen. „Die Europäische Union“, so die Experten, „ist so etwas wie der Ferrari unter den Regionen der Welt: sie bietet Luxus, Bequemlichkeit und Sicherheit.“ Europa sei eine unglaublich starke Marke, sagen sie und begründen dies wie folgt: „Jeder kennt Europa, jeder weiß, wofür Europa steht.“ Wäre die EU ein Versicherungsunternehmen oder eine Bank – die Leute würden vor ihren Toren Schlange stehen, da sind sich die PR-Leute einig.

Man fragt sich, wo diese Werbefachleute eigentlich waren, als die Kampagne für das Referendum über den Verfassungsvertrag im Gange war. Damals fielen die Befürworter und Gegner mit konkurrierenden Europa-Entwürfen regelrecht übereinander her. Doch egal, wie viel Energie, Geld und Engagement man in die Werbung für das „Produkt“ Europa auch stecken würde – um die Bürger für Europa zu begeistern, muss man schon mehr zu bieten haben, als den Hinweis auf die damit verbundenen Vorteile, auch wenn sie noch so zahlreich sind.

Viele Leute sehen in der mangelhaften Informationspolitik den Grund für die Ablehnung des Verfassungsvertrags. Weil die Politik die Bürger nicht genügend informiert habe, so die Argumentation, hätten sie geradezu aus dem Bauch heraus entscheiden müssen. Das war auch mein erster Gedanke. Aber damit unterschätzt man die Menschen. Selbstverständlich muss man versuchen, die Leute von den Vorteilen der europäischen Zusammenarbeit zu überzeugen, indem man sie auf die bereits erzielten Erfolge aufmerksam macht. Aber ein Mangel an Informationen hat nicht den Ausschlag gegeben: Wenn es doch nur so wäre!

In Wahrheit hat den meisten Niederländern die Botschaft nicht gefallen! Egal, wie wichtig die EU für unsere Stabilität, unsere Sicherheit und unseren Wohlstand auch gewesen sein mag, der Verweis auf die Vergangenheit reicht letztendlich als Legitimierung für eine Fortsetzung der europäischen Integration nicht aus. Fortschritt ist etwas anderes als das Klonen der Erfolge von gestern. Fortschritt ist das Ergreifen der Chancen von heute und die Abwehr der Bedrohungen von morgen. Will Europa auf diesem Weg erfolgreich sein, muss es sich neu erfinden.

Neuerfindung

Es besteht ein großes Bedürfnis nach einer solchen Neuerfindung Europas. Zugleich dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, dass viele Europäer verunsichert sind. Mit offenem Visier in die Zukunft blicken kann nur, wer mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. Hat man das Gefühl, dass der Boden schwankt, richtet sich der Blick wie von selbst nach unten und nicht nach vorn. Eine zukunftsorientierte Debatte über Europa lässt sich nur dann erfolgreich führen, wenn fundamentale Sicherheiten nicht mehr zur Diskussion stehen.

Wenn Europa den Menschen ihre Verunsicherung nehmen will, muss es handlungsfähiger werden. Dazu bedarf es einer Änderung der geltenden Verträge. Es ist beeindruckend, mit welcher Entschlossenheit die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in der Diskussion über einen neuen Vertrag für eine Lösung kämpft. Man erwarte aber nicht, dass die Bürger deshalb plötzlich positiver über Europa dächten. Das Problem ist, dass diese Diskussion die Gegensätze zwischen „Wir“ und „die Anderen“ betont und so den Blick auf das wahre Europa, das Europa der Ideale, verstellt. Je eher wir einen für alle Mitgliedstaaten akzeptablen Kompromiss finden, desto schneller können wir uns den gewaltigen Herausforderungen zuwenden, vor der die EU und ihre Bürger stehen.

Das geht allerdings nur mit einem Vertrag, der den Erfordernissen unserer Zeit entspricht. Die Niederlande haben eine klare Vorstellung davon, wie ein solcher Vertrag aussehen müsste. Fest steht jedenfalls, dass die Regierung den jetzigen Verfassungsvertrag nicht noch einmal dem Parlament zur Ratifizierung vorlegen wird. Der neue Vertrag muss sich nicht nur von seiner Bezeichnung her, sondern generell in Form und Inhalt deutlich von seinem Vorläufer unterscheiden.

Wenn der institutionelle Kompromiss gewahrt werden soll, bräuchten wir Änderungen in fünf Bereichen.

Verfassungscharakter

Erstens müssen wir von der Ambition ablassen, Europa eine Verfassung zu geben. Als Mitglied des niederländischen Abgeordnetenhauses habe ich im Konvent an der Ausarbeitung der Europäischen Verfassung mitgewirkt. Damals erschien es mir vernünftig, die europäische Terminologie stärker am nationalen, den Menschen vertrauten, Sprachgebrauch auszurichten, also beispielsweise „Hoher Vertreter“ durch „Minister“ zu ersetzen und statt von Richtlinien und Verordnungen von Gesetzen und Rahmengesetzen zu sprechen.

„Weg mit dem Eurospeak“, war damals die Devise. Doch das allein rechtfertigte natürlich noch nicht den Begriff Verfassung. Es bedurfte weiterer typischer Verfassungsattribute. Und so gelangten die europäische Flagge und die europäische Hymne in den Text. Außerdem entschied man sich, den vollständigen Wortlaut der EU-Charta der Grundrechte in den Vertrag aufzunehmen.

Bei den Bürgern stiftete dies Verwirrung, schließlich haben doch fast alle Länder Europas bereits eine Verfassung. Das konstitutionelle Bewusstsein der Niederländer ist seit jeher nur schwach ausgeprägt. In der politischen Debatte und an den Schulen und Universitäten führt unsere Verfassung eher ein Schattendasein. Das hat sich jetzt geändert. Mit der Diskussion über die Zukunft Europas haben wir uns plötzlich auch für die Verfassung interessiert – allerdings für unsere eigene!

Heute halte ich die Ausschmückung dessen, was im Wesentlichen ein herkömmlicher Änderungsvertrag ist, zu einer Verfassung für einen großen Irrtum. Der Rückgriff auf den nationalen Bezugsrahmen erzeugte unbeabsichtigt den Eindruck, Europa solle die Stellung des Nationalstaats übernehmen. Und so etwas kommt nicht gut an in einer Zeit, in der die Menschen durch all die Veränderungen, mit denen sie von außen konfrontiert werden, Geborgenheit vor allem in dem suchen, was ihnen vertraut ist – und das ist nun einmal in erster Linie ihr eigenes Land.

Der neue Vertrag muss darum ein gewöhnlicher Änderungsvertrag sein, der ausschließlich die Änderungen gegenüber den geltenden Verträgen enthält – ebenso wie die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza. Jegliche Verfassungsornamentik, die den Eindruck erweckt, die EU habe Ambitionen, ein europäischer Superstaat zu werden, spielt der Euroskepsis in die Hand. Und so wichtig die Grundrechtecharta auch ist – ein Verweisartikel im neuen Vertrag, der ihre Gültigkeit auf die Ausübung von europäischen Aufgaben gewährleistet, ist hinreichend und lässt keine neuen Missverständnisse über die Zielsetzungen des Vertrags aufkommen. Durch all das wird der Text nicht nur kompakter, sondern auch ehrlicher. Denn Europa ist kein Staat.

Demokratiegehalt

Zweitens muss das demokratische Funktionieren der EU verbessert werden. Das Schreckensbild vom Superstaat Europa hat wie ein Katalysator für Unsicherheit und Unbehagen gewirkt und viele Niederländer dazu gebracht, gegen die Verfassung zu stimmen. In jenem Europa, so wurde den Leuten eingeredet, könnten sie nicht mehr sie selbst sein, ja, die Niederlande würden gar von der Landkarte verschwinden. In der Kampagne vor dem Referendum war diese Angst auf einem Plakat der Verfassungsgegner eindrucksvoll dargestellt: Auf einer Karte der EU waren die Umrisse der einzelnen Mitgliedstaaten stark hervorgehoben und farblich unterschieden. Ein Land aber fehlte: die Niederlande. Sie waren in der Nordsee verschwunden.

Die Niederlande sind nicht das einzige Land in Europa, dessen Bürger zunehmend bei ihrem eigenen Staat Schutz vor dem wachsenden Einfluss von außen suchen. In Rom ist zurzeit eine Ausstellung zum Thema 50 Jahre europäische Integration zu sehen. Alle Mitgliedstaaten wurden gebeten, ein Kunstwerk einzusenden, das nationale Besonderheiten zum Ausdruck bringt. War es in der Vergangenheit so, dass die Mitgliedstaaten bei derartigen Anlässen bestrebt waren, das herauszustellen, was sie als europäisch kennzeichnet, werden heute nationale Eigentümlichkeiten innerhalb des größeren europäischen Ganzen betont.

Diese Haltung muss keineswegs eine Gefahr für Europa sein, im Gegenteil. Allerdings muss Europa dann den Mut haben, offensiv mit jenem nationalen Grundgefühl umzugehen. Besser als jede andere Institution können die nationalen Parlamente die nationale Debatte europäisieren und die europäische Debatte nationalisieren. Und genau das ist notwendig, um die Bürger endlich in das EU-Geschehen einzubinden. Das heißt allerdings auch, dass die EU nachdrücklicher als bisher anerkennen muss, dass die nationalen Parlamente der Brennpunkt des politischen Interesses und der politischen Debatte in Europa sind – und nicht Brüssel oder Straßburg.

Deshalb ist es so wichtig, dass im neuen Vertrag die Rolle der nationalen Parlamente weiter gestärkt wird. Im Verfassungsvertrag hatte es dazu bereits einen Ansatz gegeben mit der Einführung einer sogenannten gelben Karte: Wenn ein Drittel der Parlamente aus Gründen der Subsidiarität oder Verhältnismäßigkeit Bedenken gegen einen Vorschlag der Europäischen Kommission anmeldet, muss nach dieser Regelung die Kommission den Vorschlag noch einmal überprüfen. Wenn es uns aber ernst ist damit, unseren Bürgern über ihre Parlamente mehr Einfluss in Europa zu verschaffen, werden wir weiter gehen müssen, zum Beispiel indem wir festlegen, dass die Kommission ihren Vorschlag zurücknehmen muss, wenn eine Mehrheit der Auffassung ist, dass er den Kriterien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit nicht genügt.

Kompetenzverteilung

Drittens muss ein neuer Vertrag klarer regeln, wofür Europa zuständig sein soll und wofür ausdrücklich nicht. Leitgedanke dabei muss sein, dass Entscheidungen konsequent so bürgernah wie möglich zu treffen sind. Die EU soll nur dann tätig werden, wenn die Mitgliedstaaten einzeln nicht in der Lage sind, ihre Ziele zu erreichen. Das kann durchaus bedeuten, dass eine Entscheidung am besten auf europäischer Ebene getroffen wird, und dann wird in den meisten Fällen das Einstimmigkeitsprinzip zugunsten von Mehrheitsentscheidungen aufgegeben werden. Europäisches Handeln kann aber nicht die Standardantwort für die Lösung von Problemen sein, sondern nur eine wohlbegründete Option.

In den vergangenen Jahren haben Unklarheiten bei der Kompetenzverteilung mehr als einmal dazu geführt, dass sich die EU in öffentliche Dienstleistungen der Mitgliedstaaten eingemischt hat. Aber nicht alles muss den Regeln des Binnenmarktes unterworfen werden. Wenn es um die Renten, die soziale Sicherhei t, Steuern, Kultur, Bildung und Gesundheitsversorgung geht, muss jedes Land hinreichenden Spielraum haben, damit es die Qualität, die Finanzierbarkeit und die Zugänglichkeit seiner Sozialsysteme sicherstellen kann. Das bedeutet, dass die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten und der EU klarer abgegrenzt werden müssen, als dies bisher der Fall ist.

Erweiterung

Viertens müssen die Regeln für Erweiterungen in den neuen Vertrag aufgenommen werden. Um Mitglied der Europäischen Union zu werden, muss ein Land wirklich europäisch geworden sein, das heißt, es muss eine Demokratie und ein Rechtsstaat sein, es muss die Menschenrechte achten und Minderheiten schützen, es muss dem Wettbewerbsdruck innerhalb der EU standhalten können, und es muss die europäischen Rechtsvorschriften übernehmen. Im Brüsseler Jargon werden diese Beitrittsvoraussetzungen unter dem Begriff „Kopenhagen-Kriterien“ zusammengefasst.

Die Erweiterung hat nicht nur die neuen Mitgliedstaaten verändert, sondern die EU als Ganzes. Dessen sind sich die alten Mitgliedstaaten und ihre Bürger nach und nach bewusst geworden. Und so werden Anwärter auf eine EU-Mitgliedschaft nicht ohne weiteres mit offenen Armen empfangen. Wenn die Zustimmung zu Europa auch in Zukunft Bestand haben soll, dann muss die EU ein unmissverständliches Signal abgeben, dass sie bei den Beitrittsanforderungen nicht mit sich feilschen lässt. Aus diesem Grund ist die Aufnahme der Kopenhagen-Kriterien in den Text des neuen Vertrages unerlässlich.

Größere Handlungsfähigkeit

Und fünftens schließlich muss der neue Vertrag die EU dort, wo ein gemeinsames Handeln der Mitgliedstaaten angezeigt ist, signifikant handlungsfähiger machen. Die Welt von heute hält zahlreiche Herausforderungen für die Mitgliedstaaten bereit, die sie alleine nicht bewältigen können. Wenn wir beim Klimawandel, der Zuwanderungsproblematik und der Bekämpfung des Terrorismus wirklich Fortschritte erzielen wollen, müssen wir noch viel enger zusammenarbeiten. Dies gilt in gleichem Maße für die Energiesicherheit, den Umweltschutz, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften, unsere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die grenzüberschreitende Kriminalität.

Unser Europa ist ein Musterbeispiel für eine freie, verantwortungsvolle und solidarische Gemeinschaft. Es ist ein Vorbild für den Rest der Welt. Nur wenn die EU und die Mitgliedstaaten – mit dem gleichen Ziel vor Augen, aber aus ihrer eigenen Verantwortung heraus – besser zusammenarbeiten und es verstehen, die Bürger dabei mitzunehmen, können wir dieses Europa bewahren. Die Niederlande wollen nicht unbedingt weniger Europa, sie wollen ein besseres Europa.

Schluss

Hier ganz in der Nähe ist das Rathaus Schöneberg. Am 10. November 1989 sprach Willy Brandt dort vor mehreren Tausend Menschen aus Ost und West: „Nichts wird wieder so wie es einmal war. Dazu gehört, dass auch wir im Westen nicht an unseren Parolen von gestern allein gemessen werden, sondern an dem, was wir heute und morgen zu tun, zu leisten bereit und in der Lage sind, geistig und materiell. (…) Die Bereitschaft nicht zum erhobenen Zeigefinger, sondern zur Solidarität, zum Ausgleich, zum neuen Beginn, wird auf die eigentliche Probe gestellt. Es gilt jetzt, neu zusammenzurücken, den Kopf klar zu behalten, und das so gut wie möglich zu tun.“

Dieses Jahr im Oktober jährt sich Willy Brandts Todestag zum 15. Mal. Die Zeiten mögen sich seit damals, als er jene Worte sprach, grundlegend geändert haben, seine Botschaft hat jedoch nichts an Aktualität eingebüßt. Nicht nur für Berlin oder für Deutschland, sondern für ganz Europa. Denn gerade durch den einzigartigen Transformationsprozess, den die Welt seitdem durchgemacht hat und bis zum heutigen Tag noch durchmacht, drohen sich die Unterschiede, die wir überwunden glaubten – zwischen Veteranen und Neuankömmlingen, zwischen Ost und West, zwischen Groß und Klein, zwischen atlantischer und kontinentaler Ausrichtung –, erneut zu manifestieren.

Europa ist das Werk von Menschen. Alles, was wir aufgebaut haben, kann auch wieder abgerissen werden. Aus den Worten Willy Brandts höre ich den nachhaltigen Appell an uns heraus, uns auf das zu konzentrieren, was uns – Berliner, Deutsche, Europäer – verbindet und nicht auf das, was uns trennt.

Unsere soziale Marktwirtschaft macht Europa zu einem Paradebeispiel für eine verantwortungsbewusste und solidarische Gesellschaft. Sowohl im Hinblick auf das, was uns wichtig ist, als auch in der Art, wie wir dies zu erreichen versuchen, stehen sich Europäer sehr nahe. Denn was ist uns wichtig? Entspannte gesellschaftliche Verh ältnisse, ein gutes Bildungsangebot für alle, ein für jedermann zugängliches Gesundheitswesen, ein faires Miteinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ein solides soziales Netz und eine intakte Umwelt. Und wie versuchen wir all das zu realisieren? Mit unserer Dialogkultur, die den politischen Konsens und soziale Solidarität sucht.

Selbstverständlich sehe auch ich die Unterschiede innerhalb der Europäischen Union. Aus globaler Sicht sind die Übereinstimmungen aber viel zahlreicher. Europa ist, ich sagte es bereits, ein Vorbild für ein freies, solidarisches und verantwortungsvolles Miteinander. Wir müssen es nur sehen wollen.

Herbert Grönemeyer beschreibt unser Scheitern in deutlichen Worten:

Der Sommer war groß
Das Wetter gut heiß
Aber ihr steht weit im Abseits
Wenn Eure Stunde schlägt
Ist es zu spät
Weil ihr habt euch zu wenig bewegt
Ihr habt uns zu wenig bewegt
Zuwenig bewegt

Wir können die Menschen erst dann bewegen, wenn wir uns selbst bewegen. Ohne mutige Politiker gibt es auch keine mutigen Bürger. Wir müssen die „Flüsternde Zeit“ hinter uns lassen. Europa hat viel erreicht mit den Projekten. Ich will das nicht verneinen. Aber Europa braucht Sehnsucht – nicht nur die Sehnsucht derer, die draußen vor den Toren stehen, nein, wir brauchen unsere eigene Sehnsucht. Europa gehört nicht „den Anderen“. Europa gehört uns allen.