Speech Dr. Friedrich: „Free Movement and Participation of EU Citizens - making it work for all“ (Duits)

Rede von Herrn Bundesinnenminister Dr. Friedrich bei der NL-DEU-Konferenz „Free Movement and Participation of EU Citizens - making it work for all“ am 4. September 2012 in Rotterdam.

Sehr geehrte Damen und Herren,

mein herzlicher Dank gilt meinem niederländischen Amtskolle-gen Gerd Leers und seinen Mitarbeitern für die Vorbereitung und Organisation dieser Konferenz.

Das deutsche Innenministerium richtet die Tagung mit aus, so dass ich die gute und professionelle Zusammenarbeit mit Ihnen umso mehr zu schätzen weiß.

Als Initiatoren unserer Tagung bieten Sie uns hier in Rotterdam einen ausgezeichneten Rahmen für unsere Gespräche.

Mit dem Thema „Freizügigkeit und Partizipation von EU-Bürgern“ nimmt unsere Konferenz zwei zentrale Aspekte des Zusammenwachsens von Europa in den Blick:

  • Auf der einen Seite die Freizügigkeit aller Unionsbürger:
    Sie haben das Recht, sich in allen Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
  • Auf der anderen Seite ihre Aufnahme in den Mitgliedstaaten, in die sie ziehen.
    Die aufnehmende Gesellschaft soll die Integration und Teil-habe zuziehender Unionsbürger unterstützen und fördern.

Beides, das Recht auf Freizügigkeit und die Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft diese Freizügigkeit auch Umzusetzen sind manchmal auch unterschiedlich ausgeprägt. Aber meine Damen und Herren, ich glaube, dass es Gelingen muss, in Europa diese Freizügigkeit zu einer alltäglichen Selbstverständ-lichkeit zu machen.

Denn an dieser Frage wird sich entscheiden, ob es uns gelingt eine europäische Identität zu schaffen. Europa wächst nicht zu-sammen über Verordnungen und Richtlinien und manchmal mehr, manchmal weiter von der Realität entfernten Beschlüssen in Brüssel. Europa wächst zusammen, wenn die Menschen in Europa sich als Europäer begreifen. Für die es nur ein Zufall ist, ob sie gerade in Polen, in Deutschland, in den Niederlanden oder Frankreich leben. Und für viele nur eine Frage der Zeit ist, vielleicht demnächst in einem anderen Land zu leben.

Wie kaum eine andere Grundfreiheit ist die Freizügigkeit und das Leben der Freizügigkeit Gradmesser für das Zusammenwach-sen Europas.

Wie kaum eine andere Grundfreiheit ist die Freizügigkeit Gradmesser für das Zusammenwachsen Europas.

Von einer reinen Marktfreiheit hat sie sich zur allgemeinen Unionsbürgerfreizügigkeit entwickelt:

  • Ursprünglich war die Freizügigkeit in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein ausschließlich ökonomisch begrün-detes, marktbezogenes Recht.
    In erster Linie ging es um die Teilnahme am Wirtschafts- und Arbeitsleben in einem anderen Mitgliedstaat.
  • Das Recht zum Aufenthalt war nur Folge davon und hatte nicht mehr als eine dienende Funktion.
  • Mit dem Fortschreiten der europäischen Integration entwickelte sich auch die Bedeutung der Freizügigkeit weiter.
  • Insbesondere die Einführung der Unionsbürgerschaft durch den Vertrag von Maastricht im Jahr 1993 war hier ein Meilenstein.
    Die Freizügigkeit hatte sich damit zu einer – nicht mehr nur marktbezogenen - Grundfreiheit gewandelt.
    Sie ist nun unmittelbar in den Europäischen Verträgen verankert.
  • Jeder Unionsbürger hat seither das Recht, sich in der gesamten Europäischen Union frei zu bewegen und sich in jedem Mitgliedstaat aufzuhalten - in einem Raum zwischen Tallin und Lissabon, zwischen Edinburgh und Iraklion auf Kreta.

Die Entwicklung der Freizügigkeit aller Unionsbürger ist vielleicht die wichtigste Erfolgsgeschichte des europäischen Einigungs-prozesses:

  • Damit werden die Vorzüge der Union für alle Bürger Europas sichtbar.
  • Reisefreiheit, offene Grenzen, die Freiheit zum Aufenthalt und zur Niederlassung in jedem anderen Mitgliedstaat sind Privilegien, die von enormer praktischer Bedeutung sind.
  • Es sind Errungenschaften, wie sie vor noch gar nicht so langer Zeit undenkbar gewesen wären.
    Noch vor wenig mehr als zwei Jahrzehnten zerteilte eine unüberwindliche Grenze unseren Kontinent. Ost- und Westeu-ropa waren in zwei verfeindete Blöcke getrennt.
  • Heute haben wir es erreicht, dass sich die Menschen ohne weiteres und unbehindert über diese einstige Trennlinie hin-weg bewegen können.

Das Paradoxe daran ist jedoch:
Diese Vorzüge werden fast schon so selbstverständlich in Anspruch genommen, dass die Bürger sie nicht mehr als eine Er-rungenschaft des zusammenwachsenden Europas wahrnehmen.

Doch mehr denn je gilt:
Mobilität zwischen den Staaten der Europäischen Union ist und bleibt gut und wünschenswert.
Der Zuzug von Unionsbürgern, ihr zeitweiliger oder dauerhafter Aufenthalt ist eine wirtschaftliche und kulturelle Bereicherung. Natürlich gibt es für eine erfolgreiche Integration auch Hürden wie beispielsweise das Erlernen der Landessprache.
Doch in den meisten Fällen gibt es keine oder nur geringe Anpassungsschwierigkeiten.
Ein grenzüberschreitender Umzug ist fast so alltäglich wie innerhalb eines Landes.

Wir dürfen aber nicht verschweigen, dass es nach wie vor erkennbare soziale und ökonomische Unterschiede innerhalb Eu-ropas gibt.
Es gibt teilweise ein erhebliches soziales und wirtschaftliches Gefälle zwischen verschiedenen Regionen und Ländern.
In einem Raum offener Grenzen wird es deshalb immer Menschen geben, die ein besseres Leben in einer anderen, prospe-rierenden Region suchen.
Ich selber weiß sehr gut wovon ich rede. Ich komme aus einer Region, die 40 Jahre lang Zonenrandgebiet war. Im Norden die Grenze zur DDR, im Osten die Grenze zu Tschechien. Ein Eiserner Vorhang. Abwanderung ganzer Generationen in Gebiete in denen es ökonomisch besser war. Ich kenne daher alle Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten.

  • Schwierigkeiten mit bestimmten Gruppen von zuziehenden Unionsbürgern können und dürfen wir jedoch nicht in erster Linie mit repressiven oder ausländerrechtlichen Mitteln angehen.
  • Es handelt sich primär um eine integrationspolitische Aufgabe für den Staat und die Gesellschaft insgesamt.

Zuwanderung ist immer mit Herausforderungen für die Integrationspolitik verbunden.
Ein Beispiel dafür ist die deutsche Anwerbung der türkischen Gastarbeiter ab den 1960er Jahren:

  • Das deutsch-türkische Anwerbeabkommen wurde vor über 50 Jahren abgeschlossen.
    Ende letzten Jahres haben wir den 50. Jahrestag in großem Rahmen begangen.
  • Das Anwerbeabkommen ist damals weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit zustande gekommen – nämlich durch einen schlichten Notenwechsel zwischen Deutschland und der Türkei.
  • Damit hat man Zuwanderung ohne eine wirkliche Folgenabschätzung organisiert.

Man hat sich jedoch nicht bewusst gemacht, was dies für die Betroffenen und für Gesellschaft bedeutet:

  • Die Folgen spüren wir in Deutschland teilweise bis heute.
  • Integrationsversäumnisse von damals wirken nach.
  • Manche Defizite und Unterschiede zwischen bestimmten Migrantengruppen und der deutschen Bevölkerung in den Bereichen Bildung und Arbeitsmarkt gehen darauf zurück.

Wir mussten lernen, dass die kulturelle Vielfalt, die mit Zuwanderung einhergeht, Bereicherung und Herausforderung zugleich ist:

  • Wo unterschiedliche Kulturen und Lebenswelten aufeinandertreffen, wird Gewohntes hinterfragt.
    Es entsteht Unsicherheit – bei den Zuwanderern wie bei den Aufnehmenden.
    Das birgt immer auch die Gefahr von Entfremdung und gesellschaftlichen Spannungen.
  • Hier muss der Staat Hilfestellungen geben.

Wir wollen keine Parallelwelten:

  • Die verschiedenen kulturellen Gruppen sollen nicht getrennt voneinander nur nebeneinanderher leben.
  • Dann fehlt es am „Kitt“, der die Gesellschaft zusammenhält.
  • Ohne inneren Zusammenhalt kann eine Gesellschaft auf Dauer nicht funktionieren.

Deshalb dürfen wir es nicht dem Zufall überlassen, ob und wie gut Integration von Zuwanderern innerhalb Europas gelingt.

Gerade in vielen europäischen Gesellschaften brauchen wir Zuwanderung schon aufgrund des demografischen Wandels:

  • In vielen Staaten – wie etwa in Deutschland – führt dies in bestimmten Bereichen, besonders bei qualifizierten Stellen, zu einem Arbeitskräftemangel.
  • Es wird in den kommenden Jahren deshalb zu einem ver-stärkten Wettbewerb um Köpfe kommen:
    Nicht nur zwischen Unternehmen, sondern auch zwischen Volkswirtschaften.
  • Auch innerhalb Europas wird das Werben um Talente an Bedeutung gewinnen.

Dabei kommt es darauf an:

  • dass die Menschen zu uns kommen,
  • dass sie bei uns bleiben
  • und welche Möglichkeiten sie haben, tatsächlich am gesell-schaftlichen Leben teilzuhaben.

Wir müssen die gesellschaftliche Akzeptanz für Zuwanderung weiter verbessern – auch innerhalb Europas!

Denn das Gefühl, willkommen zu sein, ist der erste Schritt,

  • um neue Wurzeln zu schlagen
  • um sich mit der Aufnahmegesellschaft zu identifizieren.

Dies ist nicht nur Aufgabe für einzelne Behörden oder Personen, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe:

  • Das reicht von symbolischen Willkommensgesten bis zu einem gesamtgesellschaftlichen Einvernehmen.
  • Letztlich geht es dabei darum, sich in zahlreichen Situationen des Alltags in den anderen und seine Lage hineinzuverset-zen.

Der Staat muss dabei Rahmenbedingungen schaffen, die ganz praktisch die Integration erleichtern.

Einige Aspekte dabei sind:

  • Sprachförderangeboten,
  • Verwaltungsvereinfachungen,
  • die interkulturelle Öffnung der Verwaltung
  • oder die bessere Anerkennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse.

Hier kann und muss der Staat praktisch steuernd tätig werden.

Wir wollen uns in dieser Konferenz darüber austauschen, wie genau und in welchem Ausmaß das mit Blick auf innereuropäi-sche Migranten geschehen sollte.

Auch die Wirtschaft hat beim Thema Integration eine Schlüsselrolle.

Vor allem international und global tätige Unternehmen haben sich zum Teil schon früh mit den Herausforderungen von Integ-ration befasst.

Vieles wurde und wird hier ganz praktisch getan.

In vielen großen Firmen gelingt es oft erstaunlich gut, ein Gefühl von Zugehörigkeit und Identifikation zu schaffen:

So sagte ein nicht-deutschstämmiger Mitarbeiter des Zuffenhau-sener Porsche-Werkes kürzlich über sein Unternehmen: „Wir sind eine große Familie und schaffen alles zusammen“.

Das hat Vorbildcharakter für Staat und Gesellschaft.

Es ist ungeheuer wichtig, hier in engem Austausch zu bleiben und voneinander zu lernen:

  • Nur ein Beispiel: Das „diversity management“, das aus dem Bereich der Wirtschaft stammt, findet zunehmend Eingang in Verwaltung und Behörden.
  • Integrationspolitik ist kein einseitiges staatliches Handeln, kein bloßer Gesetzgebungsakt.
  • Das „Integrationshandeln“ von Staat und Wirtschaft muss Hand in Hand gehen.

Dies spiegelt sich nicht zuletzt auch im Teilnehmerkreis dieser Konferenz wieder.

Wir können auch nicht alles in nationalen Programmen regeln.

Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt stehen und fallen mit der Arbeit vor Ort:

  • Dafür brauchen wir ein lebendiges ehrenamtliches Engagement in vielen Bereichen wie Vereinen, Kultur oder Sport.
  • Integration muss vor allem dort geschehen, wo Zuwanderung passiert: in unseren Städten und Gemeinden.

Auch die Partizipation von Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten kann am besten vor Ort gefördert werden:

  • Deshalb legt unsere Tagung einen besonderen Akzent auf Probleme und Erfolge von Integrationsmaßnahmen vor Ort.
  • Beispiele dafür haben Sie bei Ihren gestrigen Ortsterminen gesehen:

Sei es die Grundschule mit ihrem Konzept für zugewanderte Schüler oder das städtebauliche Programm im Süden Rotter-dams.

Genau an diesen Stellen müssen wir weiter machen.

Beim Stichwort Zuwanderung denkt man in der Regel noch an die klassischen Migranten, die gekommen sind, um zu bleiben.

Doch daneben gibt es auch neue Formen der Migration:

  • Gerade innerhalb Europas gibt es eine große Gruppe von Zuziehenden, die sich nur vorübergehend aufhalten: die Transitorischen.
  • Schließlich gibt es auch noch solche, die dauerhaft im Wechsel bei uns und in ihrem Herkunftsland leben wollen. Man könnte sie als Transnationale bezeichnen.

Sie alle haben unterschiedliche Einstellungen und Bedürfnisse beim Thema Integration.

Integrationspolitik muss auch diese Unterschiede berücksichtigen, will es erfolgreich sein.

Durch Zuwanderung entsteht Vielfalt. Das kann – eine einzelne Stadt, eine Region und auch ein ganzes Land – attraktiv ma-chen.

Dabei folgen Menschen nicht mehr nur den Jobs.

Inzwischen ist es oft umgekehrt:

Die Jobs folgen den Menschen.

Unternehmen wählen den Standort, der es schafft, gerade die hellen Köpfe anzuziehen.

Der internationale Vergleich zeigt:

  • Städte und Regionen, die von Vielfalt geprägt sind, ziehen Menschen an, die innovativ und kreativ sind.
  • Diese wiederum ziehen Jobs und Wohlstand nach sich.

Migration innerhalb Europas ist deshalb eine große Chance. Integration ist dabei ein wichtiger Schlüssel.

Denn:
Auch wenn wir unterschiedliche Vergangenheiten haben, geht es doch darum, dass wir unsere Geschichte gemeinsam erfolg-reich weiterschreiben.