Spreekpunten minister Ollongren bij Journalisten Uitwisselingsdiner in Berlijn, 6 november

Meine Damen und Herren!

Ich möchte Sie mitnehmen an einen Ort tausend Kilometer von hier entfernt.

Zum Palazzo Pubblico in Siena.

Im Friedenssaal dieses Palasts finden wir ein Werk von Ambrogio Lorenzetti mit dem Titel »Allegorie der guten und der schlechten Regierung«.

Auf den Fresken sitzen links und rechts des Regenten einige Frauengestalten, die verschiedene Tugenden darstellen:

Frieden,

Stärke,

Klugheit,

Großmut,

Mäßigung

und Gerechtigkeit.

Die Fresken entstanden zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts. Sie sollten die in diesem Saal tagenden Stadtregenten bei ihrer Arbeit inspirieren.

Die Bilder dokumentieren keine überlebten Vorstellungen aus dem Mittelalter, sondern Einsichten von zeitloser Aktualität.

Meine Damen und Herren,

wir erleben turbulente Zeiten in Europa.

Der Brexit.

Die Wirtschaft muss sich an die neuen Technogien anpassen.

Der amerikanische Schutzschirm ist ungewiss geworden.

Die jüngsten Wahlergebnisse in Europa zeigen eine Landschaft in Bewegung:

Die Zahl der Wechselwähler ist enorm gestiegen.

Die Macht ist zersplittert.

Populistische Parteien sind im Aufwind.

Parteien, die mit volatilen Programmen volatile Wähler bedienen wollen, wie die Fünf-Sterne-Bewegung. Aber es sind auch neue Parteien hinzugekommen, wie etwa En Marche.

Und dann sind da noch Parteien wie die Grünen, die sich von der progressiven Flanke in die Mitte bewegen.

Wenn es überhaupt je so etwas wie Sicherheiten in der Politik gegeben hat, dann sind sie jetzt endgültig Vergangenheit.

Die politische Mitte steht unter Druck. Es braucht immer mehr Parteien, um eine Koalition zustande zu bringen. Das rührt an die Regierbarkeit unserer Länder.

Die gute Nachricht ist, dass es oft gelingt. Auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt. Die aktuelle Vier-Parteien-Koalition in den Niederlanden ist hierfür ein gutes Beispiel. Wir finden neue Wege. Wir passen uns an.

Das gilt auch für Europa.

Wir finden neue Wege. Wir passen uns an.

Die Bürger in den Niederlanden, aber auch in Deutschland, bewerten die europäische Zusammenarbeit überwiegend positiv.

Die Niederländer waren in den letzten 35 Jahren noch nie so positiv gegenüber der EU eingestellt wie heute. Gemeinsam mit Schweden, Luxemburg, Irland und Deutschland befinden wir uns in der Spitzengruppe der Länder mit den EU-freundlichsten Bürgern.

Vielleicht spielt dabei auch die derzeitige Hochkonjunktur eine Rolle. Ich denke aber, dass mehr dahintersteckt.

Die Menschen haben genug vom antieuropäischen Gerede.

Vom schrillen Ton in der Debatte.

Es ist ein Gerede ohne Perspektive.

Ohne Lösung.

Ohne Veränderung.

In einer niederländischen Zeitung las ich neulich von der »schweigenden Mehrheit, die nicht auf Twitter oder auf Protestveranstaltungen vom Leder zieht«. Einer Mehrheit, die sich Sorgen macht über internationale Fragen, über unsere gemeinsame Sicherheit, und die begriffen hat, dass wir darauf nur im europäischen Verbund eine Antwort finden können.

Meine Damen und Herren,

damit ist es aber nicht getan.

»Jene, die im Überfluss leben, sollten daran denken, dass sie von Dornen umgeben sind, und gut aufpassen, dass sie nicht gestochen werden.«

Um Johannes Calvin zu zitieren.

Wir mögen in Europa viel erreicht haben auf dem Gebiet des Binnenmarkts und der Währungsunion. Wir mögen damit viel Wohlstand geschaffen haben.

Aber viele Bürger sind der Meinung, dass das Marktdenken überhandgenommen hat.

Wir mögen in Europa jubeln über all das Gute, das wir gemeinsam hervorgebracht haben inmitten der modernen Globalisierungswelle. Aber in einer sich rasch verändernden Welt haben viele das Gefühl des Ausgeliefertseins.

Es ist kein Zufall, dass die Brexit-Befürworter in Großbritannien Erfolg hatten mit dem griffigen, aber tragisch irreführenden Slogan »take back control«.

Der amerikanische Professor Dani Rodrik sieht das Problem der Globalisierung im »unausweichlichen Trilemma der Weltwirtschaft«, wie er es nennt.

In unserer eng vernetzten Weltwirtschaft kann ein Land dreierlei haben: demokratische Politik, den Nationalstaat und wirtschaftliche Integration.

Es kann sie nur nicht alle drei in gleichem Maße haben.

Man kann sich für demokratische Politik und den Nationalstaat entscheiden, aber dann riskiert man, wie jetzt die Briten, ein einsames Dasein in wirtschaftlicher Isolation.

Man kann sich auch für den Nationalstaat und wirtschaftliche Integration entscheiden, aber dann tauscht man echte demokratische Politik – und damit echte Machtkontrolle – gegen eine undurchsichtige Technokratie ein.

Man kann sich natürlich auch für Wohlstand dank wirtschaftlicher Integration und für echte demokratische Politik entscheiden, aber das geht nur mit einer bescheideneren Rolle für den Nationalstaat – eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts.

Und genau hier liegt auch das Problem unseres vereinten Europas.

Mit dem revolutionären Ideal einer »immer engeren Union« ist uns in Europa etwas gelungen, was mit nichts anderem aus der Vergangenheit vergleichbar ist.

Es hat uns vor der immer wiederkehrenden, zerstörerischen Gewalt behütet, die ihren Ursprung im gefährlichsten aller Triebe hatte: dem Nationalismus.

Dem gefährlichsten, weil er als Nährboden fungiert, auf dem auch andere hasserfüllte Ismen gedeihen: Antisemitismus, Illiberalismus, Autoritarismus, Rassismus.

Aber unsere Union ist per definitionem unvollendet.

Wir haben uns in den ersten Jahren nach dem Krieg nicht für ein legalistisches Konzept entschieden. Also nicht für eine verfassunggebende Versammlung, einen plötzlichen Wechsel zu einer demokratischen Föderation, einer Art »Vereinigte Staaten von Europa«. Das hat viele in unseren beiden Ländern enttäuscht.

Wir haben uns in unserer Gemeinschaft dafür entschieden, allmählich, etappenweise vorzugehen, oder, wie unser Ministerpräsident zu sagen pflegt, wenn er in Berlin spricht: Schritt für Schritt.

Das ist auch der Grund dafür, warum wir uns nie auf zwei der drei Elemente aus Rodriks Trilemma festgelegt haben.

Und genau da klemmt es. Genau das stört die Leute.

Wirtschaftliche Integration hat zu Wohlstand geführt, aber nicht überall und nicht für alle.

Die Europäische Union ist die zweitgrößte Demokratie der Welt, aber die demokratische Kontrolle ist nicht perfekt und überaus komplex.

Der Nationalstaat spielt in Europa noch immer eine dominierende Rolle, aber er ist nichts Halbes und nichts Ganzes: zu klein, um die großen Fragen dieser Zeit beantworten zu können; zu groß, um europäische Tatkraft zuzulassen.

Wahrhaftigkeit und Klarheit bei den Entscheidungen, darauf ist jede Demokratie angewiesen.

Meine Damen und Herren,

die entscheidende Frage unserer Zeit wird sein:

Wie können wir Vielfalt garantieren und zugleich die Einheit der EU bewahren?

Wie sorgen wir dafür, dass jeder und jede Einzelne Chancen bekommt?

Dass Ihre und meine Kinder auch in Zukunft in einem sicheren, wohlhabenden und gerechten Europa leben können?

Dass Engagement belohnt wird? Dass jeder und jede Einzelne sich frei und kritisch über die Regierenden äußern kann?

Unsere Regierung – auf nationaler wie auf europäischer Ebene – muss ergebnisorientierter arbeiten. Positiv und eindeutig über die Chancen sprechen, die die EU bietet. Sich einsetzen für Dinge, von denen die Menschen heute und in Zukunft im Alltag wirklich etwas haben:

Einen Arbeitsplatz mit sozialer Absicherung.

Trockene Füße trotz steigender Meeresspiegel.

Wahrung der eigenen Identität in einer sich globalisierenden Welt.

Meine Damen und Herren,

Artikel 2 des EU-Vertrags lautet:

»Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. [...]«

Genau dies ist das Fundament der guten Regierung bei Lorenzetti.

Europa, das ist harte Arbeit.

Kompromisse schließen.

Die ganze Wahrheit erzählen.

Nicht nur die Elemente, die man zu Hause am besten verkaufen kann.

Solidarität braucht Verantwortung.

Das ist keine leichte Aufgabe. Und damit bin ich wieder bei den Fresken von Lorenzetti.

Ganz links thront Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit.

Von den beiden Waagschalen fallen Bänder hinab, die Concordia, die Eintracht, zu einer Kordel windet. Eine Gruppe von Männern reicht die Kordel an den Regenten weiter.

Diesen Gedanken wollte Lorenzetti den Stadtregenten des ausgehenden Mittelalters mit auf den Weg geben, und er kann uns auch heute noch inspirieren: Einigkeit macht stark.